Ansichten
zu Politik und Recht

Eugen David

Wir sind Teil der
europäischen Wertegemeinschaft

Der Bundesrat wiederholt in seinen Verlautbarungen: «Wir sind Teil der europäischen Wertegemeinschaft». Das EDA reicht den Satz gerne an die Medien weiter.

Stimmt die Kommunikation? Wie sieht das tatsächliche Handeln der Regierung aus? Welche Schweiz ist „Teil der europäischen Wertegemeinschaft“?

Was sind europäischen Werte?

Es sind die zivilisatorischen Errungenschaften der europäischen Geschichte aus der Antike, dem christlichen Mittelalter, der Renaissance, der Aufklärung und der französischen Revolution:

  • Die gesellschaftliche Respektierung des Individuums, die Anerkennung seiner Freiheiten und Grundrechte.
  • Eine Rechtsordnung, die für alle gilt, auch für die Herrschenden.
  • Gewaltentrennung und Unabhängigkeit der Gerichte in der Staatsorganisation.
  • Gesetze und staatliche Gewalt, die auf demokratischen Verfahren basieren.
  • Gesellschaftliche Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensentwürfen und Anschauungen, wenn und solange sie gewaltfrei sind.
  • Trennung von Religion und Staatsgewalt.
  • Eine Sozialordnung, die auf wirtschaftlich Schwächere Rücksicht nimmt.

Diese Wertvorstellungen sind durchaus angefochten, in Europa und im globalen Kontext.

In vielen Ländern herrschen Autokraten, Diktatoren, Mullahs, Generäle, die davon nichts halten.

Sie stehen über dem Gesetz und setzen auf Nationalismus, Vorrang nationaler Interessen, totale Überwachung im Innern, Herrschaft über die Medien, ethnische Suprematie, Klientelwirtschaft, Polizei, Gefängnisse, Militär und Gewalt zur Durchsetzung persönlicher Interessen. Das ist ihre Vision einer New World Order.

In europäischen Ländern – auch in der Schweiz - existieren rechtsnationale Parteien, die mit Führerfiguren, Nationalismus, völkischen Ansichten und Verschwörungstheorien gegen die europäischen Wertvorstellungen Politik machen. Sie versammeln in ihren Reihen die einheimischen Putinversteher.

Eine autoritäre Staatsordnung mit einem Führer, der sagt, wer zum Volk gehört und was das Volk will, gehört zum Weltbild dieser Leute.

Die Diktaturen in Russland, China, Iran, Türkei etc. und der Ukrainekrieg führen den Europäern vor Augen, dass ihre freie Gesellschaft keine Selbstverständlichkeit ist. Sie kann von innen und von aussen beseitigt werden, wenn sie nicht offensiv verteidigt wird.

Wo steht die aktuelle schweizer Regierung?

Verbal stellt sie sich hinter die europäische Wertegemeinschaft. Ihr tatsächliches politisches Handeln weicht davon ab.

Aus wirtschaftlichen Gründen markiert der Bundesrat Distanz zur europäischen Sanktionspolitik gegenüber Diktatoren und deren Anhang.

Ein Statement des ehemaligen Nationalbankpräsidenten Hildebrand in der deutschen Handelszeitung im April 22 ist beispielhaft für diese Position: «Ich frage mich auch, was das für den Finanzplatz bedeutet, wenn wir plötzlich nicht mehr als neutraler Standort gesehen werden.“

Der Kommentar erfolgte, nachdem der Bundesrat am 28.02.22 auf innen- und aussenpolitischen Druck die kurz zuvor am 25.02.22 abgelehnten EU-Sanktionen in einer 180°-Kehrwendung doch übernommen hatte.

Am Tag des Überfalls auf die Ukraine, am 25.02.22, lehnte es FDP-BR Cassis ab, Fragen der Journalisten zu beantworten. Er verlas seine Mitteilung über die Nichtteilnahme an den EU-Sanktionen und verliess den Saal.

Ideologie:
Handel mit der Schweiz produziert Friede und Freiheit

Die schweizer Diplomatie vertritt seit vielen Jahren die These, man müsse mit totalitären, auch kriegführenden, Regimen Handel pflegen und Geschäfte machen. Dann würden sich diese nach und nach in friedliche freiheitliche Gesellschaften umwandeln.

Daraus wird abgeleitet, eine offensive Verteidigung der europäischen Wertegemeinschaft gegen Diktatoren und Autokraten mittels Sanktionen oder Unterstützungsleistungen an einen Angegriffenen, wie im Fall der Ukraine, seien kontraproduktiv.

Seit SP-BR Calmy-Rey (2003 bis 2011 EDA-Chefin) wird auch argumentiert, die schweizer Diplomatie könne mit dieser Position global als Vermittler auftreten und Konflikte lösen, obschon in den letzten 30 Jahren kein Fall bekannt geworden ist, wo dies gelungen wäre.

Die „Guten Dienste“, die der Bundesrat den iranischen Mullahs bei der Vertretung ihrer Interessen in andern Ländern erbringt, hat das Mullah-Regime weder zivilisiert, noch seine gewaltorientierte Konfliktstrategie im Nahen Osten beeinflusst.

Die konsularischen „Guten Dienste“, die der Bundesrat dem russischen Diktator Putin leistet, haben ihn nicht daran gehindert, im Februar 2022 die Ukraine militärisch zu überfallen und einen Krieg mit Hundertausenden Toten auszulösen.

Weder die Mullahs, noch Putin wollen eine Vermittlung der Schweiz.

Ideologisch verbrämt wird die Position „Handel mit der Schweiz produziert Friede und Freiheit“ mit der Neutralitätsdoktrin, die das EDA nach dem 2. Weltkrieg in den fünfziger Jahren unter FDP-BR Petitpierre entwickelt hat. Zweck war damals wie heute eine Beteiligung der Schweiz an der europäischen Integration zu vermeiden, um die eigene wertfreie Handels- und Finanzplatzpolitik weiter betreiben zu können.

Seit Ende des 2. Weltkriegs erlaubt die Ideologie dem schweizer Finanz- und Businessplatz dort geschäftlich aktiv zu bleiben, wo Konkurrenten aus der EU und den USA wegen gewaltsamer Unterdrückung der Freiheit oder wegen Angriffskriegen zurückstecken müssen. Geschäfte ohne Konkurrenz ist die beste Marktlage.

Seit Ende des Kalten Kriegs muss der Bundesrat in seiner wertfreien internationalen Handels- und Finanzplatzpolitik mehr und mehr auf die EU und die USA Rücksicht nehmen. Die wertfreie Politik funktioniert nicht mehr, wenn es den westlichen Regierungen zu viel wird und sie beim Bundesrat intervenieren.

Sanktionen ohne Wirkung

Kommt es zu Interventionen – wie nach dem Angriff Putins auf die Ukraine -, passt sich die aktuelle SVP/FDP-Regierung einzelfallweise an und erklärt sie werde Sanktionen übernehmen. Was sie auf dem Papier mit langen Verordnungen auch tut.

Der von aussen erzwungene Schritt erfolgt nicht wegen der Zugehörigkeit der Schweiz zur europäischen Wertegemeinschaft, sondern um Pressionen gegen Wirtschaftsinteressen zu vermeiden.

SVP-BR Maurer meinte am 28.02.22, der Schweizer Finanzplatz sei von den EU-Sanktionen gegen den Angreifer Putin nicht unmittelbar betroffen.

Nach Zahlen der Nationalbank lagern auf Schweizer Konten viele russische Milliarden und jedes Jahr kommen Milliarden hinzu. Russische Oligarchen und deren Familienangehörige aus dem Umfeld Putins haben ihren formellen Wohnsitz und ihr Geld in der Schweiz. Die Schweiz ist der zentrale internationale Handelsplatz für russische Rohstoffe.

Die Regierung sagt, sie könne derzeit nicht feststellen, wem die Firmen und Vermögen effektiv gehören.

Eine Durchsetzung der Sanktionen scheitert daran, dass die Regierung davon absieht, die dazu erforderlichen Instrumente bereit zu stellen. Wird diese Einstellung von EU und USA bemängelt, verweist sie auf den schweizer Föderalismus. Der Föderalismus macht den Sanktionsvollzug intransparent und ineffizient.

Der Bundesrat lehnt es ab, sich an der Taskforce der westlichen Länder zur Umsetzung der Sanktionen zu beteiligen. SVP-BR Parmelin meinte, man habe nicht unbedingt die gleichen Interessen. Wenn andere Finanzplätze – wie zB Singapur – mitmachten, könnte man die Anfrage wieder prüfen.

Auf Druck aus der EU beschäftigt sich die Regierung seit kurzem dennoch damit, ein Gesetz über die Transparenz juristischer Personen und die Identifikation der wirtschaftlich berechtigen Personen zu prüfen. Das wird sehr viel Zeit in Anspruch nehmen und in der SVP/FDP-Koalition auf Widerstand stossen.

Priorität haben Wirtschaftsinteressen

Am 09.12.2022 hat es die SVP/FDP-Mehrheitskoalition im Bundesrat abgelehnt, EU-Sanktion gegen die Diktatoren und ihre Klientel in Russland, China und Nordkorea zu übernehmen.

Die EU-Sanktionen richten sich gegen Personen und ihre Helfershelfer, die gravierenden Verbrechen im Bereich von Menschenrechten, Terrorismus, chemischen Kampfstoffen und Cyberkriminalität begangen haben.

Der Bundesrat hat seinen Entscheid geheim gehalten, um negative Reaktionen aus der EU zu vermeiden. Er ist sich bewusst, dass die Schweiz immer mehr als Trittbrettfahrer beurteilt wird: die schweizer Regierung beansprucht faktisch den militärischen Schutz von NATO und EU und beansprucht wirtschaftlich den Zugang zum europäischen Binnenmarkt.

Sie will sich aber an den Pflichten und Lasten zur Verteidigung der europäischen Wertegemeinschaft nicht beteiligen.

Dieselbe Bundesratskoalition hat am 30.08.23 beschlossen, die EU-Sanktionen gegen die gewalttätigen Verfolger der russischen Oppositionellen Nawalny und Kara-Murza nicht zu übernehmen. Der Widerstand kam primär aus dem Departement von SVP-BR Parmelin.

Despoten nicht verärgern

Grund für solche Entscheide ist die Haltung der SVP/FDP-Mehrheitskoalition im Bundesrat. Eine Verärgerung der Despoten in China und Russland müsse möglichst vermieden werden. Wirtschaftliche Interessen des schweizer Finanz- und Businessplatzes könnten darunter leiden.

Die SVP-BR Parmelin und Maurer hatten am 29.04.19 in Peking dem chinesischen Diktator in einem Memorandum of Understandig versprochen, in der Schweiz mit Unterstützung des Bundes eine „competence-building platform» für seine monströse „Belt and Road Initiative“ bereit zu stellen, um dem chinesischen Regime Interventionen in Europa zu erleichtern.

Die SVP/FDP-Koalition im Parlament unterstützt die Politik der SVP/FDP-Bundesräte. Sie will keine Sanktionspolitik, welche die Schweiz selbst verantwortet. EU-Sanktionen sollen nur übernommen werden, wenn dem Druck der EU anders nicht mehr ausgewichen werden kann.

Die verbal propagierte Zugehörigkeit der Schweiz zur europäischen Wertegemeinschaft ist im Kontext dieser prioritären Haltung bedeutungslos.

Im Juli 2022 meinte FDP-BR Cassis, die Reaktionen Russlands gegenüber der Schweiz hielten sich in Grenzen. Verglichen mit anderen westlichen Ländern sei die Reaktion der Schweiz auf den Ukraine-Krieg nach wie vor gemässigt.

Keine Unterstützung, keine Verständigung

Verbrämt mit Neutralität, lehnt es die SVP/FDP-dominierte Regierung ab, europäischen Ländern zu erlauben, Waffen, welche diese vor Jahren bei schweizer Rüstungsbetrieben gekauft hatten, der Ukraine zur Selbstverteidigung gemäss UN-Charta zur Verfügung zu stellen.

Ebenso lehnt sie es ab, 90 Leopard-Panzer, welche die Rüstungsfirma des Bundes von Italien gekauft hatte und die seit Jahren vergessen auf einem Parkplatz in Italien stehen, europäischen Ländern zu überlassen, welche die Ukraine in der Verteidigung der westlichen Wertegemeinschaft unterstützen.

Das ist das Verständnis der aktuellen Regierung zum Thema „europäischen Wertegemeinschaft“.

Daran wird sich nichts ändern, solange der Bundesrat unter Führung einer SVP/FDP-Koalition steht. Deren politisches Weltbild deckt sich mit jenem der antieuropäischen rechtnationalen Parteien wie AfD, Rassemblement National, Lega Nord, FPÖ, etc.

Die „europäische Wertegemeinschaft“ findet allenfalls im Reden, nicht aber im Handeln statt.

Die Schweiz, geografische eine Enklave von EU und NATO, profitiert enorm von der Europäischen Wertegemeinschaft, will aber unter der seit 2017 rechtsnational agierenden Regierung weder einen Beitrag an die Lasten leisten, noch gemeinsames europäisches Recht anerkennen.

Ein Faktum, das in Europa zur Kenntnis genommen wird und eine Verständigung verunmöglicht.

02.09.2023

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